Mir ging es nicht um die Bedeutung der Gewerkschaften in der Geschichte, sondern um die "italienische" Geschichte, die zu einem extremen Misstrauen zwischen der FIAT-Gruppe und der italienischen Gesellschaft geführt hat. Die Geschichte ist extrem komplex, als dass man darüber hier diskutieren könnte, aber Fakt ist, dass die Agnellis Teil eines Systems war, das man getrost als "Verbrechersystem" bezeichnen darf. Abmachungen wurden nicht eingehalten, Verträge gebrochen und die Geschichte um die "Aufwertung" Pomiglianos, einer Region, die nicht in der Tradition und somit der Einstellung der Menschen der "industriellen" Produktion stand, auf Kosten der norditalienischen Fabriken, allen voran Chivasso. Chivasso war nach Melfi die modernste Produktionsstätte der Gruppe und wurde dennoch in einer Art und Weise geschlossen, das eines Staates unwürdig war.
Marchionne kann nichts dafür, denn all diese Dinge geschahen vor seiner Zeit, aber man muss verstehen, dass die Leute FIAT und somit Marchionne nicht trauen. Dazu hat auch SM wenig dazu beigetragen, weil er selbst extrem widersprüchlich und sprunghaft ist und "morgen" etwas anderes erzählt als "gestern" und somit auch von seiner Seite das Misstrauen nicht abgebaut hat.
Auch das ewige Drohen von "Wegbringen" der Produktionsstätten, sorgt nicht gerade für Ruhe. Er hat mit aller "Gewalt" in allen (?) Fabriken seinen Willen durchgesetzt und dass es mit der FIOM keinen Frieden geben wird, weiß auch er, eben weil schon zu viele Dinge vorgefallen sind.
Aber er kann nicht heute so reden und morgen so, denn es gibt ja auch eine "Planungssicherheit" für die Familien, oder?
Die Gewerkschaft ihrerseits hat ja Bereitschaft zur Diskussion signalisiert. Das Problem ist, dass Marchionne sie gerne ignoriert hätte und sie hat sich dann ihrerseits juristisch zur Wehr gesetzt und - was vorhersehbar war - gewonnen.
Noch einmal, die FIOM ist nicht die einzige Gewerkschaft, wenn auch die größte und nicht in allen Fabriken ist sie in der Mehrheit, aber selbst in der ehemaligen Bertone-Fabrik, in der die FIOM eine Dominanz hatte, haben die Arbeiter sich für SMs Plan entschieden und der FIOM-Betriebsrat gegen die "oberste" Direktive der Gewerkschaft entschieden.
Ich bin nicht auf der Seite der FIOM aus einer Vielzahl von Gründen und würde ihnen ihre Argumente um die Ohren hauen, aber ich kann die Situation der Arbeiterschaft der FIAT-Fabriken verstehen. Vor der Modernisierung einiger Fabriken war der Zustand extrem schlimm. In Italien bekommen viele ihr Gehalt nicht pünktlich ausgezahlt, sind über Jahre ohne Tarifverträge, die längst abgelaufen sind usw. usw. usw. usw. und in so einer Situation kannst du nicht auf "Befriedung" hoffen.
Daher sollte SM seine Worte vorsichtiger wählen, denn wie gesagt, die Arbeiterschaft ist mehrheitlich ihm gefolgt. Was will er mehr? So aber bekommen die Gewerkschaften, die mit FIAT die neuen Verträge ausgehandelt haben, große Probleme und die FIOM kann sich hinstellen "seht her, das haben wir euch ja immer gesagt, dass man SM nicht trauen kann.
Marchionne hat "Planungssicherheit", weil die Verträge abgestimmt sind und rechtskräftig sind. Wenn er seine Wut zum Ausdruck bringen will, dann sind die Adressaten andere, nämlich in Rom und in den regionalen und kommunalen Regierungen zu suchen, die eigentlich von ihrer Seite aus für die Basis sorgen müssten, damit FIAT "Planungssicherheit" hätte, aber hier traut sich neuerdings SM nicht mehr ran.
Statt die Regierung vor den dämlichen Steuern- und Gebührenerhöhungen im Automobilbereich zu wettern, die einer der Gründe sind, wieso der Automobilmarkt eingebrochen ist (das Anmelden eines Autos war in Italien noch nie billig, aber war es bisher 150 Euro, kommt jetzt mit der Zusatzsteuer eine Summe von 500 Euro bei einem Gebrauchtwagen von einem Wert von 6.000-7.000 Euro und das ist nur ein Beispiel und alle auf einen Schlag), blieb man ruhig und hielt sich merklich mit Kritik zurück.
Wie gesagt, das Verhältnis von FIAT und auch von Marchionne nicht zur Arbeiterschaft, sondern zum gesamten Land, ist von einem extremen Misstrauen geprägt und jeder beschuldigt die andere Seite, Schuld daran zu haben.